Erfahrungen des früheren Anklägers Šetina mit einem Staats-Tabu / Von Johann Georg Reißmüller
Ein gutes Jahr lang war Jiři Šetina Generalstaatsanwalt in Prag, 1992 und 1993. Eine kurze Zeit. Er hätte es voraussehen müssen. Was Setina nach dem Umschwung von Ende 1989 in die Hände nahm, konnte nur mit seinem Scheitern enden.
Zuerst arbeitete der Jurist Šetina in dem neuen „Amt zum Schutz der Verfassung und der Demokratie“, das war so etwas wie in Deutschland der Verfassungsschutz. Dies ging noch. Aber dann baute er eine Behörde auf, die, ähnlich wie die deutsche Gauck-Behörde, die Archive der kommunistischen Geheimpolizei mit dem Blick auf Personen durchforschen sollte. Damit machte sich Šetina keine Freunde. Die neue politische Obrigkeit unterstützte ihn wenig. Sie bewilligte ihm nur sechzehn Leute; er war der einzige Jurist. Seine Vorschläge, wie die Behörde zu organisieren sei, wurden abgelehnt. Aber einiges brachte sie doch zustande. Šetina entdeckte Akten über einen Agenten, den der tschechoslowakische Geheimdienst in den Sender „Radio Freies Europa“ in München eingeschleust und der einen Anschlag auf das Haus vorbereitet hatte. Der Agent wurde verhaftet und in Prag abgeurteilt. Das konnte dem, der ihn entlarvt hatte, nicht gut tun; viele Agenten aus der kommunistischen Zeit saßen in staatlichen Institutionen.
Aber zum Verhängnis wurde ihm erst der nächste Schritt. Als Šetina Generalstaatsanwalt war, richtete er in seinem Amt ein „Koordinationszentrum zur Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis 30. November 1989“ ein. Wie? Politisch motivierte Verbrechen in der Tschechoslowakei schon vor dem kommunistichen Umsturz vor dem 25. Februar 1948? Schon in der Zeit, da der Bürgerliche Beneš als Präsident an der Spitze des Staates stand und Bürgerliche und Sozialdemokraten zusammen mit den Kommunisten die Tschechoslowakei regierten? Damit war das Staats-Tabu namens Beneš-Dekrete berührt.
Der Generalstaatsanwalt in Prag konnte mit einer Beschwerde an das Oberste Gericht wegen Gesetzesverletzung Gerichtsurteile anfechten. So geschah es im Fall des Unternehmers Jan Antonín Baťa, den am 2. Mai 1947 ein „Nationalgericht“ in einem offensichtlich unrechtsstaatlichen Verfahren zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt hatte. Gegen Baťa, Eigentümer eines weltweiten Industrie- und Handelsunternehmens, hatte es schon 1945 eine politische Hetzveranstaltung gegeben. Dort brauchte der Kommunistenführer Gottwald kein Wort zu sagen, weil schon der Monsignore Hála, Minister aus der katholisch orientierten„Volkspartei“, über Baťa herzog: Verbrecher, Kollaborateur. Der Kollaboration (mit der deutschen Besatzungsmächt) sprach den Angeklagten dann nicht einmal das Nationalgericht im Mai 1947 schuldig; aber es zog anderes herbei. Die Kommunisten hatten ihr Ziel erreicht: Mit dem Urteil fiel Bat’as riesiges Vermögen an den Staat. Auch mit solchen Maßnahmen wurde die Tschechoslowakei schon in den drei Jahren vor Gottwalds Putsch vom Februar 1948 bolschewisiert.
Šetinas Vorstoß scheiterte. 1994 befand das Oberste Gericht, die Zeit, in der Jan Antonín Baťa verurteilt wurde, müsse als rechtlich abgeschlossen gelten und unterliege nicht den Kriterien des geltenden Rechts. Daran könne nur ein Gesetz etwas ändern. Präsident des Obersten Gerichts im Jahr 1994 war der heutige tschechische Justizminister.
Des Generalstaatsanwalts Šetina Rechtsbeschwerde von 1993 gegen das Urteil gegen Baťa aus dem Jahr 1947 alarmierte die politische Klasse in Prag. Würde dieser Generalstaatsanwalt noch gegen andere politische Strafurteile aus der. Zeit zwischen Kriegsende und kommunistischer Machtergreifung angehen? Jan Antonín Baťa war aufgrund des Beneš-Dekrets Nummer 16 verurteilt worden. Zielte Šetina also gegen die Beneš-Dekrete selbst? Etwa auch gegen diejenigen, welche die Deutschen in der Tschechoslowakei rechtlos gestellt, zur Unterdrückung freigegeben hatten? Sogar gegen das Gesetz vom 8. Mai 1946 über die „Rechtmäßigkeit von Handlungen, die mit dem Kampf um die Wiedervereinigung der Freiheit der Tschechen und Slowaken Zusammenhängen“, das die nach Kriegsende begangenen Untaten gegen Deutsche – auch die Massenmorde – nicht nur von Strafbarkeit ausnahm, sondern für rechtmässig erklärte? Zielte Šetina also gegen den Höhepunkt des Staatsunrechts von Beneš und Gottwald? Ja, so meinte er es; der Gefahreninstinkt der Prager politischen Klasse war intakt.
Ein Sturm erhob sich gegen Šetina. Die Kommunistische Partei, die Sozialdemokratische Partei, die katholisch orientierte Volkspartei agitierten gegen ihn. Die große rechtsliberale Partei distanzierte sich von ihm. Zeitungen griffen ihn an, überschütteten ihn mit Vorwürfen, verlangten, er solle abtreten oder man solle ihn absetzen. Staatspräsident Havel forderte Šetina öffentlich auf, sein Amt niederzulegen; sollten sich die Vorwürfe als unbegründet erweisen, könne er das Amt wieder ausüben. Ein ungewöhnlicher Zug des Staatsoberhaupts.
Ende 1993 wurde ein Strafverfahren gegen Šetina eingeleitet mit Vorwürfen, diesich im Rechtlichen wie im Tatsächlichen seltsam ausnahmen: Preisgabe eines Staatsgeheimnisses, Beleidigung eines Staatsorgans, Gefährdung der Devisenwirtschaft. Das Gericht erster Instanz sprach Šetina nach drei Jahre langem Verfahren in allen Punkten frei. Doch im Mai 1997 meldete das frühere kommunistische Zentralorgan „Rudé Právo“ („Rotes Recht“), der Fall Šetina komme aufs Neue vor Gericht. Und so geschah es. Die zweite Instanz hob den Spruch der ersten auf, in einer Verhandlung, der weder der Angeklagte noch sein Verteidiger beiwohnen durfte. Seit dem 1. Januar 1998 sind zwei der Strafnormen, deren Verletzung man Šetina zur Last legte, aufgehoben. Die dritte wurde so verändert, dass sie eine Anklage gegen Šetina nicht mehr trägt. Dennoch dauert das Strafverfahren an. In welchem Stadium es ist, was die Justiz der Tschechischen Republik mit Šetina noch vorhat, darüber erfährt er nichts. Im Jahr 2000 steht er gegenüber der Strafjustiz so da wie einst im Jahr 1994.
Als der Tscheche Jiří Šetina16 war, Ende 1948, verurteilte die kommunistische Strafjustiz seinen Vater wegen versuchter Republikflucht zu fünf Jahren Gefängnis. In der Haft, und noch danach, musste er in einem Kaolin-Werk arbeiten. Der Kaolin-Staub zerstörte die Lunge, daran starb der Vater 1957. Der Sohn durfte Rechtswissenschaft studieren, wollte Advokat werden, musste aber zur Staatsanwaltschaft. Dort war er einer der wenigen ohne das kommunistische Parteibuch. An politische Strafverfahren ließen sie ihn deshalb nie. 1966 ging er weg. In einer Erklärung nannte er den Grund: Einer Strafjustiz, die mit dem Recht so umgehe, wolle er nicht länger dienen. Daraufhin verlangten, man sole Šetina verhaften. Doch es war die Spätzeit des Parteichefs Novotny, das Regime lockerte seinen Griff. So konnte Šetina nun Sekretär des Verbandes der Maler, Grafiker und bildenden Künstler werden - der einzige parteilose Sekretär eines der Kulturverbände. Er hat daran mitgewirkt, dass 1967 in Prag die erste zensurlose Gemälde-Ausstellung im Sowjetblock stattfand, nach Debatten im Politbüro. Eine zweite Ausstellung ohne Zensur, 1969, im Jahr nach dem sowjetischen Einmarsch, schloss die Geheimpolizei. Bald stand Šetina auf der Straße, als Arbeiter schlug er sich durch. Heute verdient er zu seinen 410 Mark Pension als Advokat etwas dazu. Vorzugsweise vertritt er Leute, die aus politischen Gründen benachteiligt werden; von ihnen verlangt er oft kein Honorar. So ergeht es Jiří Šetinain Prag, der als Generalstaatsanwalt dem Regime Beneš/Gottwald nahe treten wollte.
FAZ, 18.4.2000, Nr. 92, Seite 3, Politik
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Die Nachkommenschaft von Jan Antonin Baťa ist bis heute, mit Hilfe der tschechischen Justiz, beraubt um Eigentum und um das Recht auf ein faires Verfahren. Gerade wurde weitere Verfassungsbeschwerde eingereicht. Die Kommunisten und ihre Erben in der Staatsverwaltung haben ihre Macht und Einfluss bis heute behalten. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist nach wie vor Jan Antonín Baťa - einer der größten Helden des Landes - unbekannte Person, im besseren Fall. Im schlimmeren Fall ein Quisling und ein Kriminelle.
JUDr. Jiří Šetina lebt heute auf seinem Hof, der er „Hof der freien Nutztiere“ nennt - siehe Bild – in Kutřín, etwa 170 Km westlich von Prag.
Jan Šinágl, 6.11.2016
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