Am 17./18. Februar fand von der Deutsch-Polnische Gesellschaft an der freien Universität Berlin eine Tagung unter dem Titel „Ist Vertreibung Unrecht“ statt. Schon die Überschrift dieser Veranstaltung suggeriert, dass man Zweifel am „Unrecht“ der Vertreibung haben darf. Welcher Vertriebene sollte sich durch diese Headline nicht verletzt fühlen. Eines ist klar: durch die irreführende Kontextbetrachtung der letzten Jahre bleibt die individuelle Unrechtserfahrung deutlich auf der Strecke. Auch hat man geradezu den Eindruck, dass sich in wissenschaftlichen Kreisen die Kollektivschuldzuweisung durchgesetzt hat. Wen wundert es, dass der Teilnehmer der Veranstaltung Koch zu dem Fazit gelangte: “Die Deutsche haben sich selbst vertrieben“?
Als Tscheche, der sich seit vielen Jahren mit dieser Thematik beschäftigt und als Anhänger der deutschen Rechtsordnung, irritiert mich, dass in Deutschland solchen Veranstaltungen nicht Einhalt geboten wird. Der Titel dieser Veranstaltung zeigt nur zu deutlich, wie zukünftig mit diesem Thema umgegangen werden soll. Die unter der Vertreibung stattgefundenen Menschenrechtsverletzungen sollen außer Betracht bleiben. Die ehemalige SPD Parlamentarierin Herta Däubler-Gmelin versuchte in ihrem Vortragspart, den emotionalen Störfaktor „Heimatverlust“ aus der Welt zu schaffen mit dem Argument, dass die Vertriebenen ja eine „neue Heimat“ gefunden hätten. Aus dem Munde einer Juristin klingt diese These nicht nur absurd, sie hat auch Auswirkungen. Selbstverständliches muss nämlich immer wieder neu erklärt werden. Auf diese Weise kann man einer Stellungnahme zu den Menschenrechtsverletzungen, die den Vertreibungsablauf kennzeichneten, ausweichen und auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben.
Durch sprachliche Spitzfindigkeiten werden immer neue Wege gefunden, die Vergangenheitsbewältigung zu konterkarieren. Das blockiert letztendlich auch den Fortschritt der tschechischen Aufarbeitung, der in letzter Zeit gute Ansätze zeigte. Wie sollen bei einem tschechischen Staatsbürger ein Unrechtsbewusstsein und das Bedürfnis nach Vergangenheitsbewältigung entstehen, wenn in Deutschland in wissenschaftlichen Veranstaltungen das Unrecht der Vertreibung in Frage gestellt wird?
Moralische Themen sollen wissenschaftlich „versachlicht“ werden. Aber wie will man Mord und sonstige Exzesse der Vertreibung ohne juristisches Verfahren auf eine sachliche Ebene bringen? Damit haben auch Wissenschaftler ein Problem. Mit immer neuen Ideen versuchen sie die emotionalen Stolpersteine, die juristisch nicht aufgearbeitet werden durften, „wissenschaftlich“ aus dem Weg zu räumen. Ihre Antworten beziehen sich längst nicht mehr auf die Geschichte derer, die sie erlebt haben. Traurig ist, dass die vielen „Makulaturveranstaltungen“ zum Thema Vertreibung obendrein von Bundesgeldern finanziert werden.
Sicherlich gibt es unterschiedliche subjektive Wahrnehmungen in der Tschechischen Republik und Deutschland. Darüber kann man diskutieren. Aber es gibt nur eine Wahrheit.
Die Deutschen wissen nur zu gut, wie wichtig die detaillierte Aufarbeitung ihrer Nazivergangenheit für die nachfolgende Generation ist. Soll Tschechien dieser Prozess verwehrt werden? Erfreulicherweise treffe ich mehr und mehr deutsche Vertreibungsnachkommen, die diesen Trend nicht länger hinnehmen wollen. Sie kritisieren die angestrebte „biologische Lösung“, die nur das eine Ziel hat, das Aussterben der Erlebnisgeneration „auszusitzen“. Sie meinen, dass die Abschaffung der Benesh-Dekrete überfällig ist und Tschechien das Vertreibungsunrecht endlich moralisch dokumentieren sollte. Das kann ich nur unterschreiben. Für Tschechien wäre die Befreiung von diesen Unrechtgesetzen ein bedeutungsvoller Schritt in eine hoffnungsvolle Zukunft. Daran sollte jeder, der sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt, Interesse haben.
http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/media/termin_ressourcen/2012_we2_wannseekonferenz.pdf
http://www.neues-deutschland.de/artikel/218961.kein-verbrechen-rechtfertigt-ein-neues.html
http://hausderheimat.npage.de/prof-de-zayas-zur-berliner-tagung.html
http://hausderheimat.npage.de/verhoehnung-der-vertriebenen-ergebnis-der-berliner-tagung.html
Jan Šinágl, 23.2.2012
Aktualisiert 26.2.2012
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