Die Realität ist immer komplizierter. Eine Freundin erzählte mir, wie ihr Großvater während des Krieges in den Wäldern arbeitete, weil er kein Arier, was 1943 eine Eintrittskarte ins Gase war. Nur hatte er eine arische Frau, also bekam er nur die Waldarbeit. Er durfte einmal im Monat nach Hause.
So kam es, dass er kurz vor Ende des Jahres erst nach vierzehn Tagen nach Hause kam - er hatte Fieber und musste sich zwei Tage lang hinlegen. Ein Nachbar sah ihn und zeigte ihn an der Gestapo. Opa hat eine Vorladung bekommen. Er packte eine Zahnbürste, Zahnpasta und ein paar Pflaumen in seine Aktentasche und ging.
Der Gestapo-Mann starrte auf seine Papiere und sagte: "Sie sind in Schönwald geboren?"
"Ja."
"Ich komme auch von dort, und wie ich sehe, haben wir das gleiche Geburtsdatum."
Der Großvater meines Freundes war so verwirt, dass er gehorsam das Datum buchstabierte.
"Ich werde es Ihnen sagen", sagte der Gestapo-Mann. "Und sie haben in Schönwald gewohnt? Wo genau?"
"An der Bergstation unter dem Hügel".
"Dann müssen wir zusammen gerodelt und Fußball gespielt haben, Donnerwetter! Haben sie Fußball gespielt?"
"Das habe ich."
"Ich auch."
Dann zerriss der Gestapo-Mann die Denunziation und ließ Opa gehen.
Der Nachbar, der Opa denunziert hatte, machte schwarze Geschäfte und war froh, dass er nur ein paar starke Ohrfeigen von der Gestapo bekommen hatte. Wie alle anderen schloss er sich gleich nach dem Krieg den Kommunisten an, wurde zum Kämpfer gegen den Faschismus und prangerte den Faschismus weiterhin an.
Ich wünsche den Leserinnen und Lesern des Freitags, dass das nächste Jahr genauso blöd wird wie dieses Jahr - auf keinen Fall mehr.
LN Freitag (30.12.2022)
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