...Die Ewigkeitsklausel im Artikel 79 unseres Grundgesetzes schreibt einige grundlegende Staatsprinzipien wie Demokratie, Gewaltenteilung oder das Bundesstaatsprinzip fest – die freiheitliche demokratische Grundordnung für sich genommen allerdings nicht. Als Richter muss und darf ich mich zu dieser Grundordnung bekennen. Gerade sie aber ist bereits jetzt in Gefahr. Wenn sie weiter erodieren würde, hätte ich ein großes Problem. Dann könnte ich mir vorstellen auszuwandern.
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WELT: Sie haben das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte gegründet. Was ist das?
Schleiter: Als die Verfassungsbeschwerde bekannt wurde, hat mich ein Kollege angeschrieben, ein gestandener Verwaltungsrichter. Er könne fast jedes Wort darin unterschreiben. Wir haben dann zusammen ein Netzwerk gegründet, eine Webseite hochgefahren, und dann kamen mehrere Hundert Zuschriften, darunter Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Ärzte, Statistiker, Ministerialbeamte und viele andere Menschen. Sie haben auch ihre Begeisterung ausgedrückt und teils Unterstützung anboten. Ein 101-Jähriger schrieb uns: Dass ich das noch erleben darf, dass Richter auch einmal etwas gegen ihren Arbeitgeber sagen!Wir wollen uns jetzt als Verein gründen, unser erstes Ziel ist es, objektiv, tatsachenbasiert und nüchtern bei der juristischen Bewältigung der Krise zu helfen. Im Anschluss geht es an die Diskussion größerer Probleme der Justiz als dritter Staatsgewalt.
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Verstößt die Corona-Politik gegen das Grundgesetz? Um das zu klären, hat der Berliner Richter Pieter Schleiter Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingereicht. Ein Gespräch über den Parlamentsvorbehalt – und die dubiose Rolle der Bundeskanzlerin.
Pieter Schleiter ist Strafrichter am Landgericht Berlin. Seine Amtsstube ist spartanisch: im Regal Kommentarbände, auf dem Tisch eine einsame Pflanze. Der promovierte Jurist, 43 Jahre alt, hat privat Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesnormen und Landesnormen zur Pandemiebekämpfung eingereicht. Außerdem ist er Mitgründer des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte.
WELT: Herr Schleiter, Sie halten die deutsche Pandemiepolitik für verfassungswidrig. Unterstellen Sie den handelnden Personen Absicht?
Pieter Schleiter: Wenn ein Politiker es für möglich hält, dass er gegen die Verfassung verstößt, aber trotzdem handelt, weil es ihm wichtiger ist, ein anderes Ziel zu verfolgen, dann ist das vorsätzlich im juristischen Sinne. Das gilt ähnlich für einen Raser, der eine Tötung zwar nicht beabsichtigt, aber billigend in Kauf nimmt – und zwar auch dann, wenn er es nur für möglich hält, dass durch sein Handeln jemand ums Leben kommt. Überträgt man die strafrechtlichen Grundsätze des sogenannten Eventualvorsatzes und des Unrechtsbewusstseins, die Paragrafen 16 und 17 StGB, auf die Politik, dann kann man zumindest die Frage stellen, ob hier ein vorsätzlicher Verstoß gegen den Amtseid vorliegt, den sowohl Bundespräsident als auch Bundeskanzlerin und Bundesminister nach Artikel 56 und 64 des Grundgesetzes geleistet haben: „Ich schwöre, dass ich … das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen … werde. So wahr mir Gott helfe.“
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